12.05.2024 – Heiner Schultz, Gießener Allgemeine Zeitung
Ein besonderes Orgelkonzert erfreute die Besucher dieser Tage in der evangelischen Marienstiftskirche. Der international renommierte Organist Heinrich Walther spielte die »Kunst der Fuge« von Johann Sebastian Bach. Das zweistündige Mammutmeisterwerk musizierte er mit beeindruckender Präzision und nicht zuletzt einnehmenden emotionalen Aspekten.
Ähnlich wie die »H-Messe« gehört dieses Werk zu den bedeutendsten des Komponisten. Er habe sich in seinen letzten Lebensjahren hauptsächlich damit befasst, erläuterte Kantor Christof Becker eingangs und betonte seinen Respekt vor der »unerhörten Qualität« des Werks. Bach habe mit der »Fuge« gleichsam seinen musikalischen Nachruf verfasst, eine Antwort auf den gültigen Musikgeschmack. »Bach machte die Fuge erst zu dem, was wir heute darunter verstehen«, sagte er. Sein meisterlicher Umgang mit den Themen sei »ein Faszinosum. Es ist eigentlich nicht nachzuvollziehen, wie er das kann.« Zur Einstimmung sang Becker mit dem Publikum zunächst das Thema einmal durch.
Betrachtet man das Programm, erscheint das Werk zunächst als mit wissenschaftlicher Akribie und streng mathematisch aufgebautes Konstrukt in zwei Gruppen, den einfachen und mehr-thematischen Fugen, insgesamt 19, plus einem Fragment.
In den ersten vier Kapiteln klingt das noch eher schlicht und ist schmal instrumentiert. Doch schon hier entfaltet sich die Ästhetik: Bereits im zweiten Satz wird es voller, allmählich verlängern sich die »Kontrapunkte« genannten Teile, doch gibt es einen einfachen Abschluss.
Unverkennbar ist das Ganze auf eine Entwicklung hin konstruiert und Bach erweist sich hier als ebenso unbeirrbarer wie minutiöser Musikbaumeister. Zug um Zug erweitert er die Vielfalt von Notation und Klang, fügt dramaturgische Steigerungen ein. Im Lauf der Zeit erhebt schon mal die Unübersichtlichkeit ihr mächtiges Haupt, doch der geduldige Zuhörer fühlt schon bald, wie eine große emotionale Ebene eingerichtet wird. Auch die erschließt sich nicht in allen Sätzen sofort, doch immer mehr erkennt man die grundlegende Verbindlichkeit der Komposition, ihre zugewandte Qualität. Dann gibt es Stimmungswechsel, nach einer etwas grellen Klangfärbung wechselt das Werk zu eher friedvollem, fröhlichem Tonfall.
Der Zuhörer begegnete einer ungeheuren Vielfalt, jeder Abschnitt unterscheidet sich vom nächsten in Färbung, Tonfall und Intensität: Man fand sich in einem sanften Mahlstrom der Töne und Klänge. Und obwohl das Werk offenkundig nicht direkt fürs Publikum gedacht ist, erlebt man staunend nicht einen einzigen langweiligen Moment.
Walther musiziert das alles mit eindrucksvoller Sicherheit, durchgehender Ruhe und Stetigkeit, niemals kommt es zu Hast genauso wenig wie zu grober Zudröhnung des Publikums. Der Organist nach dem Konzert: »Es ist schon ein Ritt. Wenn man zu viele Register einsetzt, führt das zu einer Art Überwältigung der Zuhörer«, und die fand jedenfalls nicht statt.
Auf die ganz tiefen Bässe, die in der Marienstiftskirche prachtvoll möglich sind, musste man durchaus warten. Dafür stellte sich ganz allmählich und unmissverständlich eine Art meditativer Wirkung ein, in der man sich vom Strom der Musik – es gab nur eine kurze Pause – einfach mitnehmen lassen konnte. Dazu waren besonders die zahlreichen nachdenklichen Partien dienlich.
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